China: "Extrapolation gibt es nicht mehr"

von Alexander Kirschbaum

"Die Bedeutung Chinas ist offensichtlich. Und zwar deshalb, weil wir alle in den Rückspiegel schauen und sehen, welche extremen Wandlungen sich in China ergeben haben", so begann Jörg Wuttke seinen Vortrag im Rahmen der Jahrestagung STAHL 2016. Zweistellige Wachstumsraten hätten die Erwartungshaltung der europäischen Industrie bestärkt, dass das Land auch in Zukunft stark wächst. Für viele stehe die Wirtschaftsentwicklung Japans, Taiwans und Koreas beispielhaft dafür, wie sich auch China entwickeln werde. "Doch das kann man nicht auf China übertragen. Trotz des Potenzials ist China teilweise ein Entwicklungsland. Ich warne davor, dass sich China so entwickeln wird wie Japan oder Korea, viele von diesen Prognosen stimmen irgendwann nicht mehr", so der Präsident der Europäischen Handelskammer in China.

Die Erwartungen seien seit Chinas WTO-Beitritt im Jahr 2001 extrem gestiegen. Damals habe China Anteil am Welthandel bei zwei bis drei Prozent gelegen, heute sind es rund 13 Prozent. Der WTO-Beitritt habe allerdings auch zu einem Stillstand geführt. Zunächst sei das Land an die Kapitalmärkte herangeführt und staatseigene Betriebe zugemacht worden, doch dann mangelte es den chinesischen Regierungen zunehmend am Reformwillen. "Wir hatten eine Phase, in der wir in Europa und Deutschland enttäuscht über das Anhalten der Reformen waren, gleichzeitig aber mit einem rasanten Wachstum zufriedengestellt worden sind."

Autobahn von China nach Europa

Laut Wuttke erwarten chinesische Regierungsvertreter kein wiedererstarken der Wirtschaft mehr, sondern ein Wachstum in L-Form. Das heißt, der Wachstumsprozess wird fallen und dann parallel verlaufen, auf einem hohen Niveau von sechs bis sieben Prozent. Darüber hinaus entwickele sich der Kontinent China mit seinen 31 Member states anders als in der Außenwahrnehmung. "In Chengdu liegt das Wachstum bspw. bei 10 Prozent, im Nordosten haben wir hingegen eine Rezession."

"Im vergangenen Jahr sind gerade einmal Investitionen in Höhe von 9 Milliarden von Europa nach China gegangen. Die chinesischen Investitionen in Europa lagen gleichzeitig bei 22 Milliarden. Aus einem one way von Europa nach China ist ein two way geworden. Im Grunde eine Autobahn nach Europa und ein kleiner dürrer Pfad nach China." Die europäische Industrie ist laut Wuttke allerdings nicht investitionsmüde, so seien die Investitionen in die USA zuletzt deutlich angestiegen. Vielmehr investiere auch die private chinesische Industrie kaum noch in die eigene Wirtschaft. Staatseigene Betriebe unterfüttern den derzeitigen Aufschwung in China, so der Handelskammerpräsident.

Frage der Reziprozität

"Durch den Umschwung in China stellen wir fest, dass in Europa immer stärker nach Reziprozität gerufen wird". So habe die Bundeskanzlerin Angela Merkel im Juni in Peking Reziprozität angemahnt. Auch bei der China Strategie der EU-Kommission spiele die Forderung nach Gleichwertigkeit gegenseitig gewährter Handelsvorteile eine große Rolle. Dabei gehe es auch darum, warum europäische Unternehmen schwieriger in China investieren können als anderswo.

Die neuerliche europäische Sensibilität fällt laut Wuttke in eine interessante Phase in China. So habe die Chinese Academy of Engineering im September letzten Jahres ein entscheidendes Positionspapier herausgegeben. "Made in China 2025" ist Wuttke zufolge ein visionäres und detailliertes Strategiepapier einer Semi-Regierungsstelle, dem viele chinesische Firmen folgen. In vielen Industrie 4.0 Bereichen will China künftig Marktanteile erringen, ohne dabei auf Joint Ventures zu setzen. "Indigenous innovation heißt im Prinzip, ohne euch Europäer. Chinesische Firmen kaufen sich im Ausland stark ein und halten sich dabei an die Roadmap."

Blick nach vorne

Chinas Präsident Xi Jinping habe es bisher nicht geschafft, beschlossene Reformen von 2012 und 2013 umzusetzen. Ende nächsten Jahres sind in der Volksrepublik jedoch Wahlen. "Wir hoffen, dass die Reformen dann mit einer neuen, stark aufgestellten und wirtschaftsgetriebenen Regierung angegangen werden." Bis dahin wird sich laut Wuttke nicht viel ändern und auch kein Marktzugang für europäische Unternehmen gewährt werden.

"Eine starke Kreditzugabe im vergangenen Jahr sowie Anfang 2016 hat dazu geführt, dass die Wirtschaft des Landes ein wenig in die Gänge kommt. Daraus ergibt sich allerdings kein nachhaltiges Bild. Uns stellt sich die Frage, wie lange China es schafft, die Wirtschaft mit mehr Krediten und verschleppten Reformen anzuheizen."

Vor zehn Jahren generierte ein Euro an Kredit noch einen Euro Bruttosozialproduktzuwachs in China, wie Wuttke deutlich machte. "Mittlerweile sind wir bei einem Euro Kredit und 20 Cent Zuwachs." Das Geld fließt laut dem Handelskammerpräsidenten in die Wirtschaft, um Kredite wieder aufleben zu lassen. " Wir haben eine große Sorge, wie sich das auswirkt. Die Schulden in China sind gewaltig, gerade bei Firmen und lokalen Regierungen. China ist komplex, China ist ein Kontinent, aber von einem können Sie ausgehen: Extrapolation gibt es nicht mehr", so das abschließende Fazit von Jörg Wuttke.

Quelle und Fotos: marketSTEEL

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