Wie Normung die Stahlindustrie beim Wandel unterstützt

von Dagmar Dieterle-Witte

Mit Normen in die klimaneutrale Zukunft

Wie Normung die Stahlindustrie beim Wandel unterstützt

 

Sibylle Gabler, Mitglied der DIN-Geschäftsleitung, und Dr. Richard Knobloch, Geschäftsführer des DIN-Normenausschusses Eisen und Stahl (FES), sprechen über die Herausforderungen und Chancen der Transformation der Stahlindustrie und den Beitrag internationaler Normen.

 

marketSTEEL: Die deutsche Wettbewerbsfähigkeit steht unter Druck – Energiepreise, geopolitische Unsicherheiten und Investitionskosten machen die grüne Transformation in der Stahlindustrie zusätzlich anspruchsvoll. Wo sehen Sie derzeit die größten Herausforderungen?

Sibylle Gabler: Neben hohen Energiepreisen und geopolitischen Risiken wächst auch der internationale Wettbewerb in der Standardisierung: China, die USA und weitere zentrale Länder haben bereits eigene Vorgaben für grünen Stahl etabliert. Europa muss rasch nachziehen – mit einem einheitlichen Standard, der etwa Messmethoden verbindlich regelt. Gerade jetzt ist es entscheidend, dass die deutsche und europäische Stahlindustrie Normung und Standardisierung gezielt und strategisch nutzt. Normen schaffen Klarheit, stärken Vertrauen und sichern Investitionen.

marketSTEEL: Herr Knobloch, die Transformation der Stahlbranche läuft auf Hochtouren. Wo sehen Sie aktuell den größten Fortschritt?

Dr. Richard Knobloch: Die Stahlindustrie steht vor einem Wendepunkt. Die Branche hat sich klar zur Klimaneutralität bekannt und arbeitet daran, ihre Produktionsprozesse anzupassen. Einige Unternehmen gehen voran – mit dem Bau von Direktreduktionsanlagen oder der Umstellung auf Elektrostahlproduktion mit grünem Strom. Erste Pilotprojekte liefern vielversprechende Ergebnisse: Emissionsärmerer Stahl kommt bereits auf den Markt. Zugleich optimieren Hersteller ihre Prozesse, um die gewohnte Stahlqualität auch bei den neuen Verfahren zu sichern. Die Transformation ist technisch anspruchsvoll und erfordert große Investitionen, aber der Wille zur Umsetzung ist deutlich spürbar.

marketSTEEL: Das klingt nach großen Fortschritten. Aber welche Herausforderungen müssen noch überwunden werden?

Dr. Richard Knobloch: Die größten Herausforderungen sehe ich im Bereich der Infrastruktur und bei den Rohstoffen. Vor allem fehlt Wasserstoff in ausreichender Menge und Qualität. Ohne ihn wird der Wandel nicht gelingen – hier müssen Branche und Politik gemeinsam handeln. Doch auch Wasserstoff allein genügt nicht: Für die Elektrostahlroute wird ebenso Schrott in der erforderlichen Qualität entscheidend sein. Gleichzeitig brauchen wir international abgestimmte Regeln für Förderungen und CO₂-Bepreisung, um faire Wettbewerbsbedingungen zu schaffen. Und schließlich steht hinter all dem ein weiterer Faktor: Wir brauchen Fachkräfte, beispielsweise junge Ingenieurinnen und Ingenieure, die diesen notwendigen Wandel in den kommenden Jahren gestalten und vorantreiben.

marketSTEEL: Frau Gabler, welche Rolle spielt dabei die Normung?

Sibylle Gabler: Normen sind die Grundlage für technische Sicherheit und für die Marktfähigkeit neuer Produkte. Die Stahlindustrie muss gewährleisten, dass auch Stahl, der über neue Prozesse wie wasserstoffbasierte Direktreduktion oder aus höherem Schrottanteil hergestellt wird, vergleichbare Qualitätseigenschaften besitzt wie herkömmlich erzeugter Stahl. Dabei spielt die Überarbeitung bestehender Normen eine große Rolle.

marketSTEEL: Und wie wirkt sich das auf die Arbeit des FES aus?

Dr. Richard Knobloch: Der FES übernimmt in diesem Wandel eine zentrale Funktion. Wir analysieren kontinuierlich, welche bestehenden Normen an neue Anforderungen angepasst werden müssen – insbesondere im Hinblick auf neue Herstellungsverfahren wie die wasserstoffbasierte Direktreduktion. In unseren Gremien bringen Expertinnen und Experten aus Industrie, Forschung und Anwendung ihr Wissen ein, um praxistaugliche, zukunftsfähige Normen zu schaffen. Dabei orientieren wir uns sowohl an konkreten technischen Fragestellungen als auch an übergeordneten Zielen wie Klimaschutz und Ressourceneffizienz.

marketSTEEL: Doch damit die Transformation gelingt, ist eine internationale Zusammenarbeit wichtig. Wie arbeiten die Normungsorganisationen weltweit zusammen, Frau Gabler?

Sibylle Gabler: Grundsätzlich ist das Normungssystem dreistufig aufgebaut: Es gibt die nationale, europäische und internationale Normung. Internationale Normen, beispielsweise der Internationalen Organisation für Normung – kurz ISO – setzen weltweite Standards. Europäische Normen wie EN dienen dem Binnenmarkt und müssen von den nationalen Normungsorganisationen übernommen werden. Nationale Normen wiederum regeln länderspezifische Themen. Für den Stahlbereich bedeutet das: Auf internationaler Ebene wird die Normung durch ISO/TC 17 „Steel“ sowie IEC/TC 68 abgedeckt. Auf europäischer Ebene ist CEN zuständig, für den Stahlsektor das technische Komitee CEN/TC 459 „ECISS“. DIN bietet auf nationaler Ebene die Plattform für die Normungsarbeit in Deutschland – im Stahlbereich übernimmt das der FES. Die in den DIN-Gremien engagierten Expertinnen und Experten bringen die deutschen Positionen auch in die europäischen und internationalen Gremien ein – so sichern wir die Berücksichtigung deutscher Interessen.   Der VDEh ist der Träger des FES, begleitet seit seiner Gründung im Jahr 1947 die Stahlherstellung in Deutschland normativ und stärkt somit die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Stahlindustrie.

marketSTEEL: Herr Dr. Knobloch, ein aktuelles Thema ist der Low Emission Steel Standard (LESS). Wie schätzen Sie dessen Bedeutung ein?

Dr. Richard Knobloch: Das Konzept des LESS zeigt, wie Brancheninitiativen und Normung zusammenwirken. Der Standard macht die CO₂-Intensität von Stahlprodukten transparent und teilt sie in Emissionsklassen ein. Die Stakeholder können so besser vergleichen und fundierter entscheiden. Derzeit prüfen wir, ob LESS in eine europäische Norm überführt wird. Das könnte künftig die Grundlage für Nachhaltigkeitsnachweise im Stahlsektor sein.

marketSTEEL: Nach all diesen Schritten und Entwicklungen – wie blicken Sie in die Zukunft der Stahlindustrie?

Sibylle Gabler: Ich bin überzeugt davon, dass die Stahlindustrie eine Schlüsselrolle in der klimaneutralen Transformation unserer Wirtschaft einnehmen wird. Entscheidend ist, dass wir jetzt konsequent die richtigen Weichen stellen. Die Normung bietet dabei einen verbindlichen Rahmen, der Innovationen voranbringt, Prozesse vereinheitlicht und den Marktzugang für klimafreundliche Produkte sichert.

Dr. Richard Knobloch: Mit Optimismus und einer gesunden Portion Realismus. Die Umstellung auf klimaneutrale Produktionsprozesse ist ein Generationenprojekt, das enorme technische Anforderungen mit sich bringt. Wir verändern jahrzehntealte Prozesse in wenigen Jahren. Das ist eine große ingenieurtechnische Leistung. Entscheidend ist, dass wir diesen Wandel gemeinsam gestalten – mit Herstellern, Anwendern, Normungsorganisationen und der Politik. Der FES wird weiterhin eine zentrale Rolle spielen, um den Wandel normativ zu begleiten und so die Zukunftsfähigkeit der Stahlindustrie zu sichern.

 

Hintergrund:

Der DIN-Normenausschuss Eisen und Stahl (FES) ist in Deutschland zuständig für die Normung von Stählen und Nickellegierungen. Der Normenausschuss mit Sitz in Düsseldorf, organisatorisch und personell dem Stahlinstitut VDEh zugeordnet, dient interessierten Kreisen als unparteiische Plattform, um nationale, europäische und internationale Normen im Stahlsektor zu erarbeiten.

Fotos: Deutsche Institut für Normung e.V. (DIN), DIN-Normenausschusses Eisen und Stahl (FES), fotolia

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