Unverhofft kommt oft: China-Hoch bringt höhere Preise in die EU

von Dagmar Dieterle

Am EU-Markt sind die Spotmarktpreise für fast alle Stahlerzeugnisse in den vergangenen Wochen in einem Tempo gestiegen, das die Marktteilnehmer schon seit einigen Jahren nicht mehr erlebt haben. Wöchentlich und in manchen Fällen täglich werden höhere Preise ausgerufen. Zwar waren die Preise zuvor auf ein übertrieben niedriges Niveau gefallen, so dass der jetzige Preisanstieg zum Teil als fällige Korrektur angesehen werden kann. Die Dynamik und Stärke des Anstieges ist aber absolut unerwartet gekommen. Auch wenn die höheren Preisen mehrere Ursachen haben, liegt der Kern der Aufwärtsbewegung klar in China.

Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass der in der öffentlichen Diskussion mittlerweile etablierte Dreiklang „China = Überkapazität = weltweite Dumpingpreise“ zu schlicht und unvollständig ist, um wahr zu sein, dann haben ihn die vergangenen Wochen erbracht. Aus theoretisch berechneten Überkapazitäten können keine Stahlpreise abgeleitet werden. Diese bilden sich auch in China in einem komplexen Prozess aus vielen Einflussfaktoren. Diese haben dazu geführt, dass die Preise im chinesischen Inlandsmarkt rasant gestiegen sind. Für das Referenzprodukt Warmbreitband werden aktuell Preise von umgerechnet 480,- bis 490,- $/t genannt. Dies ist ein Anstieg von mehr als 150,- $/t gegenüber Anfang März. Damit ist Stahl in China nun teurer als in der EU.

Chinesische Stahlhersteller haben sich marktwirtschaftlich rational verhalten, ihre Exportmengen reduziert und ihre Exportpreise entsprechend deutlich angehoben. Dies hat sich zunächst an den eng verbundenen asiatischen Märkten und dann schnell auch am Weltmarkt ausgewirkt.  Der scharfe Preisanstieg am Weltmarkt ist etwas verzögert, aber dennoch mit einiger Wucht am deutschen Markt angekommen. Steigende Importpreise haben sich zunächst auf den besonders importorientierten südeuropäischen Märkten ausgewirkt. Der dortige Preisanstieg hat sich dann innerhalb der EU schnell verbreitet.

Die EU-Importpreise, die im Vorjahr deutlich gesunken waren und damit den Preisrückgang auch am deutschen Markt eingeleitet hatten, sind in den vergangenen Wochen in rasanter Geschwindigkeit gestiegen. Gerade bei Flachstahl haben sich viele im Vorjahr noch sehr aktive Anbieter weitgehend zurückgezogen. Neben höheren Preisen in anderen Regionen der Welt dürften auch die von der EU eingeleiteten Antidumping-Maßnahmen dazu beigetragen haben. Neben kalt- und warmgewalzten Flacherzeugnissen sind auch Grobbleche und Beton(stab)stahl von den Verfahren betroffen. Interessanterweise sind aber die Stahlpreise in den nicht durch Antidumping-Maßnahmen geschützten asiatischen Ländern noch stärker gestiegen als in der EU.     

Aktuell geht für die EU-Hersteller von der Importseite praktisch kein Wettbewerbsdruck mehr aus. Auch das zuvor unüblich große Preisgefälle innerhalb der EU hat sich weitgehend aufgelöst. Die EU-Stahlhersteller nutzen die sich bietenden Spielräume und heben die Preise in schneller Folge an. Dies wird unterstützt von einem teilweise verknappten Angebot und von höheren Rohstoffpreisen. Vor allem bei Langerzeugnissen wirken sich die stark steigenden Schrottpreise aus. Bei der für die Flachstahlerzeugung wichtigen Hochofenroute sind die internationalen Preise für Eisenerz und Kokskohle ebenfalls gestiegen. Allerdings geht der jüngste Anstieg der Flachstahlpreise über den Anstieg der Rohstoffkosten hinaus.

Der weltweite scharfe Preisanstieg ist insofern paradox, als er vor dem Hintergrund einer unverändert schwachen Nachfrage stattfindet. Der Weltstahlverband hat Mitte April seine Nachfrageerwartungen für 2016 nach unten korrigiert. Die globale Nachfrage soll um 0,8% gegenüber dem Vorjahr schrumpfen, für China wird ein Minus von 4,0% erwartet. Auch der europäische Verband Eurofer hat in seinem neuen Marktausblick die Erwartungen nach unten angepasst. Der sichtbare Stahlverbrauch in der EU soll danach in diesem Jahr stagnieren, der reale Bedarf nur um 1,1% steigen.

Im Moment sind die Aufwärtskräfte so stark, dass die Preise in den kommenden Wochen weiter spürbar steigen werden. Wer am Spotmarkt kaufen muss, wird deutlich mehr bezahlen müssen. Allerdings laufen wesentliche Teile des Industriegeschäfts über längerfristige Preisbindungen. Hier wird die Stunde der Wahrheit erst zur Jahresmitte schlagen, wenn zahlreiche Kontrakte zu erneuern sind.

Aufgrund der schwachen Nachfrage und der Fragilität des Aufschwungs in China sind große Zweifel an der Nachhaltigkeit des aktuellen Preisanstieges berechtigt. Wann sich eine Preiskorrektur einstellen wird, ist aber kaum vorherzusagen, nachdem sich der Markt in den vergangenen Wochen für alle Beteiligten als unberechenbar gezeigt hat.

Der Beitrag stammt vom Leverkusener Stahlmarkt-Berater Andreas Schneider, StahlmarktConsult. Foto: StahlmarktConsult

Der Gastkommentar spiegelt die Meinung des Autors wider, nicht notwendigerweise die der Redaktion von marketSTEEL.

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