Stahlmarkt China: Höhenflug auf wackligem Fundament

von Dagmar Dieterle

Ein wesentlicher Unterstützungsfaktor für den weltweiten Stahlpreisanstieg in den vergangenen Monaten war die unerwartet robuste Entwicklung des chinesischen Stahlmarktes. Diese scheint aber zunehmend eher von einer positiven Stimmung als von entsprechenden Fakten getragen. Die Wahrscheinlichkeit für einen Preisrückschlag ist hoch. Sollte dieser eintreten, hätte dies auch Folgen für den europäischen Stahlmarkt. Denn erst wenn das zuletzt eher laue Lüftchen der Weltmarktpreise zum Sturm wird, kann sich auch hierzulande zeigen, wie stark das Stahlpreis-Fundament tatsächlich ist.

Als Beobachter des chinesischen Stahlmarktes reibt man sich die Augen: Noch im Jahr 2015 sahen prominente Akteure der dortigen Stahlindustrie die Branche vor einer jahrelangen „Eiszeit“, ausgelöst von einer stagnierenden Stahlnachfrage bei gleichzeitig beträchtlichen Überkapazitäten. In Europa werden Branchenvertreter bis heute nicht müde, den Stahlmarkt im Reich der Mitte als erdrückt von einem riesigen Überkapazitätsproblem zu kennzeichnen, das ohne Rücksicht auf Verluste in die Welt getragen werde.

Schaut man sich die Preisentwicklung in den vergangenen zwölf Monaten an, ergibt sich ein ganz anderes Bild. Die Preise für das Referenzprodukt Warmbreitband liegen in China aktuell ca. 85% höher als vor einem Jahr. Die chinesischen Exportpreise sind sogar noch etwas stärker gestiegen. Auch wenn der starke prozentuale Zuwachs durch das niedrige Ausgangsniveau verzerrt wird – die Preise liegen so hoch wie seit drei Jahren nicht mehr. Chinesische Stahlhersteller verdienen am Inlandsmarkt derzeit gutes Geld. Dies hat – vielleicht noch mehr als die zahlreich gegen chinesischen Stahl verhängten Zölle – dazu geführt, dass die Stahlausfuhren des Landes seit Mitte 2016 sinken. In den ersten beiden Monaten des Jahres 2017 lagen sie ca. ein Viertel niedriger als im Vorjahr und haben das niedrigste Niveau seit drei Jahren erreicht.

Neben deutlich höheren Exportpreisen und sinkenden Exportmengen hat der Aufschwung noch eine weitere wichtige Konsequenz: mit den Stahlpreisen in China sind auch die Eisenerzpreise gestiegen (wobei Ursache und Wirkung nicht klar zu trennen sind). Diese liegen mittlerweile auf einem 30-Monats-Hoch und übertreffen alle Prognosen. Aus allen drei Faktoren zusammen resultiert zweifellos gewichtige Unterstützung für die Stahlpreise weltweit und auch in Europa.

Allerdings scheint das Fundament für das derzeitige Preisniveau zunehmend brüchig zu werden. Auslöser des Umschwungs im vergangenen Jahr waren massive Konjunkturpakete der chinesischen Regierung, die mit Bau- und Infrastrukturprojekten und einer expansiven Kreditvergabe die Stahlnachfrage ankurbelte. Die Bauwirtschaft ist mit Abstand der wichtigste Stahlabnehmer des Landes Auch die Automobilindustrie wurde mit Steueranreizen gestützt. Zusammen mit am Jahresanfang niedrigen Lagerbeständen und einem folgenden Bestandsaufbau führte dies dazu, dass die chinesische Stahlnachfrage im vergangenen Jahr entgegen zahlreichen Vorhersagen ein leichtes Plus aufwies.

Ein weiterer Faktor sind die von der Regierung nun mit einiger Vehemenz verfolgten und geschickt vermarkteten Pläne zum Kapazitätsabbau. Die bereits erfolgte und noch andauernde Schließung von meist veralteten und unproduktiven Kapazitäten dürfte zwar im Sinne einer Angebotsbereinigung nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein, zumal gleichzeitig neue, moderne Werke eröffnet werden. Die marktpsychologische Wirkung ist aber beträchtlich. Dies gilt vor allem für den in China auch unter Kleinanlegern ausgeprägten Börsenhandel mit Stahl und Rohstoffen. Die Börsennotierungen für Stahlfutures machen nach jeder Erfolgsmeldung oder Ankündigung zum Kapazitätsabbau oder auch nur zu temporären Schließungen einen Satz nach oben. Derzeit scheint die gute Börsenstimmung die Stahlpreise im physischen Geschäft stärker als alle anderen Einflüsse zu tragen. „Chinese hot rolled coil prices rise in futures gains but demand still weak.“ – diese charakteristische Schlagzeile eines Fachdienstes sagt fast alles über den aktuellen Zustand des chinesischen Stahlmarktes. 

Doch die Anzeichen dafür, dass der Boom am Stahlmarkt kurz vor dem Ende steht, mehren sich. Die chinesische Stahlerzeugung lag in den beiden ersten Monaten des Jahres knapp 6% höher als im Vorjahr. Hohe Gewinnmargen laden eben auch in China dazu ein, die Produktion zu steigern. Da die meisten Prognosen für dieses Jahr eine sinkende oder stagnierende Stahlnachfrage erwarten und die Exporte deutlich gesunken sind, fragt sich, was mit den Zusatzmengen passiert. Eine Antwort darauf ist, dass die Bestände stark gestiegen sind. Diese sind sowohl für Betonstahl als auch für Warmbreitband nach oben geschossen und haben nun den höchsten Stand seit zwei Jahren erreicht. An den chinesischen Häfen lagern 130 Mio. Tonnen Eisenerz – so viel wie seit 2004 nicht mehr.

Das große Gewicht politischer Entscheidungen und der Finanzmärkte machen es extrem schwer, die Entwicklung des chinesischen Stahlmarktes vorherzusagen. Dennoch muss die Wahrscheinlichkeit für einen Preisrückschlag hoch angesetzt werden. Mit dem Ende des Winters und dem Anziehen der Bautätigkeit steht die saisonal stärkste Phase der Stahlnachfrage vor der Tür. Zusammen mit der positiven Börsenstimmung könnte dies die Stahlpreise noch für einige Zeit stützen. In den vergangenen Jahren haben sich die Stahlpreise in China nach einem Frühlingshoch oft nach unten bewegt. In diesem Jahr könnte sich dies wiederholen und der Preisrückgang dann durchaus kräftig ausfallen.

Wenn es so käme, stünde auch der europäische Stahlmarkt vor einer echten Belastungsprobe. Es wird sich nämlich erst in einem Umfeld sinkender Weltmarktpreise für Stahl und Eisenerz zeigen, wie gut die als Schutzschirm aufgestellten Anti-Dumping-Zölle der EU tatsächlich wirken. In den vergangenen Monaten herrschte bei den Preisen am Weltmarkt für Stahl dank des chinesischen Höhenfluges ein eher laues Lüftchen. Nur wenn dieses zum Sturm wird, kann sich auch hierzulande zeigen, wie stark das Stahlpreis-Fundament tatsächlich ist.

 

Der Beitrag stammt vom Leverkusener Stahlmarkt-Berater Andreas Schneider, StahlmarktConsult. Foto: StahlmarktConsult

Der Gastkommentar spiegelt die Meinung des Autors wider, nicht notwendigerweise die der Redaktion von marketSTEEL.

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