Mit Daten zur nachhaltigen Lieferkette
von Dagmar Dieterle
Die Auswirkungen des Klimawandels sind allgegenwärtig. Infolgedessen trägt die Industrie die wichtige Verantwortung, ihre Abgase zu reduzieren. Relevant sind dabei nicht nur die eigenen Emissionen, sondern auch die, die über die Lieferkette hinweg entstehen. Das stellt insbesondere die CO2-intensive Stahlindustrie, die rund 5-7 % einer Volkswirtschaft ausmacht, vor Herausforderungen. Frank Thelen, Head of Governance and Procurement bei thyssenkrupp Materials Services, erläutert im Gespräch, wie sich diese digitalisiert überwinden lassen.
marketSTEEL: Fast jedes Unternehmen wird aktuell mit der eigenen Klimaneutralität konfrontiert. Warum ist es aber so wichtig, dass Unternehmen nicht nur ihr unmittelbares Geschäft, sondern auch ihre Lieferketten so nachhaltig wie möglich gestalten?
Frank Thelen: Wenn Unternehmen ihre Emissionen messen, dürfen sie damit nicht an den eigenen Werktoren aufhören. Stattdessen müssen sie auch Treibhausgase miteinbeziehen, die in ihrem Namen entstehen – also etwa bei der Energieerzeugung oder insgesamt über ihre Lieferkette hinweg (Scope 2- und Scope 3-Emissionen). Wie auch beim Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz gilt es, umfassende Verantwortung zu übernehmen – gerade, wenn Unternehmen emissionsintensive Werkstoffe beziehen.
marketSTEEL: Trotz industrieller Bemühungen ist Stahl einer dieser emissionsintensiven Werkstoffe – haben stahlverarbeitende Unternehmen nicht also eine ganz andere Verantwortung, weil sie so hohe Scope 3-Emissionen mitverantworten?
Frank Thelen: Ja und nein – die Stahlindustrie arbeitet schließlich seit Jahren an emissionsreduzierten Alternativen zum herkömmlichen Stahl. Angebote gibt es bereits, allerdings gehen diese häufig mit höheren Kosten einher. Die Menge der Emissionen ist dabei nicht die einzige Herausforderung für stahlverarbeitende Unternehmen. Es fehlen auch internationale Standards zur Datenerfassung, was dazu führt, dass sich Einkäufer häufig gar kein genaues Bild von den Emissionen machen können, die bei der Stahlproduktion in anderen Ländern anfallen. Es besteht somit auch keine Transparenz darüber, wie hoch der Emissionsgehalt in der entsprechenden Lieferkette eigentlich ist.
marketSTEEL: Wie lässt sich diese Transparenz erreichen?
Frank Thelen: Besonders wichtig für die Stahlindustrie und nachhaltige Lieferketten ist die Auswertung von Daten und deren Nutzung als Entscheidungsbasis. Denn nur wer weiß, wie groß der CO2-Fußabruck ist, kann Maßnahmen einleiten, um diesen zu reduzieren. Um dies für Produkte entlang der Lieferkette zu berechnen, haben wir bei thyssenkrupp Materials Services beispielsweise im vergangenen Jahr unseren Product Carbon Footprint Calculator vorgestellt, der Emissionen im Unternehmen und über die ganze Lieferkette hinweg zusammentragen und berechnen kann – von Scope 1 bis Scope 3 also. Dabei geht es um Daten zu den Lagerstandorten, der An- und Ablieferung sowie alle Lieferanten- und Materialdaten. Nach dem „Cradle to Gate“-Ansatz werden somit alle Emissionen berücksichtigt.
marketSTEEL: Welche Rolle spielt dabei Digitalisierung?
Frank Thelen: Umfangreiche Datenmengen übersteigen schnell die Kapazitäten des menschlichen Gehirns. Darum ist es wichtig, dass sie digital erhoben, analysiert und visualisiert werden. Ausschlaggebend ist dann auch, was ich mit den gesammelten Daten mache. Um sie zur Emissionsreduktion zu nutzen, müssen sie ins ERP-System integriert werden. Das ist zwar ein aufwändiger Prozess, doch können Emissionsdaten damit für strategische Einkaufsentscheidungen genutzt werden. Will sagen: Die Kosten-Nutzen-Rechnung, die stahlverarbeitende Unternehmen bei jeder Kaufentscheidung machen und die häufig zum Kauf von herkömmlichem Stahl führt, wird um den Nachhaltigkeitsfaktor erweitert.
marketSTEEL: Welche Möglichkeiten bieten digitale Lösungen darüber hinaus, wenn es um nachhaltige Lieferketten geht?
Frank Thelen: Neben CO2-reduzierten Produkten tragen auch Lösungen, die auf künstlicher Intelligenz basieren, zu mehr Nachhaltigkeit in unseren Lieferketten bei. Sobald die notwendige Datenbasis besteht, um eine KI zu trainieren, sind etwa Nachfrageprognosen denkbar. Eine KI kann jeden noch so kleinen Datenpunkt sammeln und auswerten, um anschließend besonders akkurate Vorhersagen zu treffen. Der zentrale Vorteil für Unternehmen besteht darin, ihre Produktions- und Transportprozesse auf dieser Basis punktgenau planen zu können – denn effizientere Prozesse sind meist auch nachhaltiger, weil beispielsweise weniger Leerfahrten oder Materialabfälle entstehen. Das heißt digitale Supply Chain-Lösungen haben den Vorteil, dass sie Lieferketten resilienter und flexibler, aber eben auch nachhaltiger machen. Daran arbeiten wir bei thyssenkrupp Materials Services mit verschiedenen Corporate Ventures.
marketSTEEL: Was meinen Sie, ist Klimaneutralität mit denen von Ihnen beschriebenen Maßnahmen realistisch?
Frank Thelen: Klimaneutralität ist machbar, wenn wir proaktive Maßnahmen zur Treibhausgasreduktion mit Carbon Capture- und Storage-Technologien oder Emissionsausgleichszertifikaten kombinieren. Weil null Emissionen nach Stand der heutigen Technik nicht möglich sein werden, sollten wir auf die Netto-Null abzielen. Zu diesem Zweck bieten wir unseren Kunden zum Beispiel an, Emissionen mit Voluntary Carbon Credits aus streng geprüften Projekten auszugleichen.
Allerdings sind gesamtgesellschaftliche und globale Veränderungen häufig zentrale Innovationstreiber. Und die Vergangenheit hat immer wieder gezeigt: Nur, weil wir uns etwas heute noch kaum vorstellen können, bedeutet das nicht, dass es in einigen Jahren nicht schon Realität ist.
Fotos: thyssenkrupp Materials Services