Die Grenzen zwischen Leben und Arbeiten verschwimmen

von unsem Gastkommentator

Der Zukunftsforscher Matthias Horx hat einen Beitrag formuliert, der sich mit der Arbeitswelt beschäftigt. marketSTEEL dokumentiert den Text im Original-Wortlaut:

Das Verständnis von Arbeit befindet sich unter dem Einfluss von Digitalisierung und Postwachstumsbewegungen grundlegend im Wandel: Die klassische Karriere hat ausgedient, die Sinnfrage rückt in den Vordergrund. Die Grenzen zwischen Leben und Arbeiten verschwimmen im Alltag auf produktive Weise. Als Arbeit gilt künftig die Summe aller Beschäftigungen zu unterschiedlichen Lebensphasen.

Die rationale Leistungsgesellschaft des Industriezeitalters mit Überstunden, Konkurrenzkampf und Präsenzzeiten hat sich als nicht zukunftsfähig erwiesen. Mit der Corona-Krise als Beschleuniger setzen sich New-Work-Modelle nun rasant durch. Der krisenbedingte Digitalisierungsschub fördert neue Arbeitsstrukturen, die von Work-Life-Blending, Kollaboration und Remote Work geprägt sind. Unternehmenskulturen werden agiler und adaptiver, während Mitarbeitende sich stärker als Problemlöser für gesellschaftliche Zukunftsaufgaben sehen.

Von der Wachstums- zur Postwachstumsgesellschaft

Wir befinden uns in einer Zeit des Übergangs: Die kapitalistisch geprägten Vorstellungen von Karriere und Erfolg treten sukzessive in den Hintergrund. An ihrer Stelle nehmen Werte Platz, die nicht mehr unbedingt an harte Faktoren wie Einkommenshöhe und Status gekoppelt sind, sondern die mit weichen Faktoren wie Sinnhaftigkeit, Gestaltungsmöglichkeiten und Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben verbunden sind.

Um die Veränderungskraft des Megatrends New Work zu veranschaulichen, lohnt ein Blick zurück: In westlichen Agrargesellschaften war die Arbeit von Männern und Frauen gleichwertig. Beide Geschlechter trugen zum Überleben der gesamten Hofgemeinschaft bei. Erst mit der Industrialisierung entstanden Arbeitsplätze, die außerhalb des Hauses lagen. An die Stelle der Hofgemeinschaft trat die Kleinfamilie, und Männer wie Frauen begannen einer außerhäuslichen Erwerbstätigkeit nachzugehen. Die Hausarbeit fiel jedoch in dieser Zeit vermehrt in die Hände der Frauen – als zusätzliche Belastung neben der Erwerbsarbeit.

Fortan konzentrierten sich politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen nur noch auf die Arbeit, die mit einem Einkommen verbunden war. Dieses Verständnis von Arbeit ist also noch recht jung – und wandelt sich derzeit wieder massiv.

Das Leben wird heute nicht mehr so stark in Arbeit und Freizeit unterteilt, sondern im Ganzen als die Summe aller Tätigkeiten betrachtet – ganz gleich, ob diese bezahlt sind oder ehrenamtlich geschehen, ob sie aus Interesse, Pflicht oder Freude verrichtet werden. Das hängt auch mit einem neuen Blick auf den Stellenwert und Zweck des Wirtschaftens zusammen: Insbesondere den jungen Generationen, der Generation Y und Generation Z, ist bewusst, dass das bislang Lebenssinn gebende Versprechen vom ewigen Wirtschaftswachstum nicht erfüllt werden kann, wenn dabei die Lebensgrundlage aller – der Planet Erde und dessen Ressourcen – zugrunde gewirtschaftet wird.

Diskussionen zum Grundeinkommen und zur Neubewertung von Care-Arbeit unabhängig von Geschlechterrollen sind erste zarte Knospen einer gesellschaftlichen Entwicklung, die den Begriff Arbeit von Erwerb entkoppelt.

Sinn-Ökonomie: Gamechanger für langfristigen Erfolg

Welche aktuellen Probleme und welche Zukunftsaufgaben können unsere Produkte oder Dienstleistungen lösen? Das ist die Sinnfrage, die sich jedes zukunftsfähige Unternehmen stellt. Diese zahlt auch auf die Corporate Culture eines Unternehmens ein, die für das Unternehmensimage immer wichtiger wird: Denn nur wer diese Frage beantworten kann, der schafft ein attraktives Arbeitsumfeld für die wachsende sinnsuchende Arbeitnehmerschaft. Arbeitnehmer, die ihre Arbeit als sinnstiftend wahrnehmen, sind zudem seltener krank. Arbeitgeber wirken damit also auch auf die Gesundheit ihrer Angestellten und indirekt auf ihre Produktivität.

Die Sinn-Ökonomie impliziert ein verändertes Verständnis von Fortschritt, bei dem das beste und nicht das neueste Produkt das Wertvollste ist. Dabei definiert sich das beste Produkt nicht mehr allein über qualitativ hochwertige Materialien oder die angenehmste User Experience, sondern ergibt sich aus einer Kombination aus ökologischen, ökonomischen und ethischen Werten. Diese müssen nicht mehr unmittelbar mit dem Produkt zu tun haben.

Corporate Social Responsibility (CSR) ist kein Luxus mehr, den sich Unternehmen als Nice-to-have leisten, sondern beinhaltet signifikante Wirtschaftsvorteile – und ist zugleich eine Win-win-Situation für Gesellschaft und Unternehmen. Zusätzlich zu dem Vorteil, sich als verantwortliches Unternehmen positionieren zu können und damit attraktiv für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im umkämpften Markt um Fachkräfte zu werden, erhöht eine solche Reputation auch die Kundenbindung und damit die Resilienz des Unternehmens. Zugleich bedeutet nachhaltiges Wirtschaften oft Energie- und Ressourceneffizienz und damit Kostenreduktion.

Work-Life-Blending statt -Balance

Arbeitnehmende sehnen sich heutzutage nach Modellen, die Beruf und Freizeit harmonisch ineinandergreifen lassen. Statt einer perfekten Aufteilung der Zeit zwischen Job und Freizeit heißt das neue Lebensmotto „Work-Life-Blending“: Ein fließender Übergang zwischen Arbeits- und Privatleben ermöglicht den Arbeitnehmern, flexibel auf private Umstände zu reagieren, selbstbestimmt zu arbeiten und damit produktiver zu sein.

Nicht nur das Thema Arbeitszeit, auch der Ort der Arbeit ist im radikalen Wandel begriffen. Die Corona-Pandemie hat gezeigt: Remote Work ist ein wichtiger Bestandteil von New Work – und funktioniert. Während sich viele Arbeitnehmenden während der Krisenzeit im Homeoffice befanden, bangten die Chefs um die Produktivität ihrer Arbeitskräfte. Ob Vanoffice, Café oder Hüttenbüro: Remote Work erlaubt es, konzentriert dort zu arbeiten, wo man einen Teil seiner Freizeit verbringen möchte. Gerade in der Gig Economy, dem wachsenden Arbeitsmarkt aus Selbstständigen, Freiberuflern und Menschen, die in Gelegenheitsjobs oder nur projektbezogen arbeiten, wird Arbeiten auch immer häufiger mit Reisen verbunden.

Unter dem Begriff Workation nehmen inzwischen auch Angestellte die Arbeit mit auf eine Reise und verbinden den Aufenthalt an einem besonderen Ort mit ihrer beruflichen Tätigkeit. Das Vertrauen darauf, dass Freiheiten genutzt, aber nicht ausgenutzt werden, fördert die Motivation der Mitarbeitenden und kommt Unternehmen damit wieder zugute. In Zukunft heißt es also für Führungskräfte: Loslassen, wenn man Mitarbeitenden halten möchte.

Das Büro ist tot, lang lebe das Büro!

Wenn alle zu Hause oder anderswo arbeiten, wozu braucht es dann noch ein Büro? Diese Frage stellten sich viele Arbeitgeber, als sie 2020 vor den menschenleeren Büroräumen standen. Doch während die Menschen es zu Beginn der Corona-Pandemie noch genossen hatten, gemütlich zu Hause zu sitzen, vermissten sie im Verlauf des andauernden Lockdowns den Tapetenwechsel und die nicht-virtuellen Begegnungen mit Kollegen und Kolleginnen. Die zwischenmenschlichen, spontanen Kontakte, den inspirierenden Zufall, den kurzen Austausch und das gemeinsame Kreieren vor Ort kann auch eine gut funktionierende Remote-Arbeitskultur nicht ersetzen.

Das Büro wird also mitnichten irrelevant. Mit den Erfahrungen, die während der Pandemie gemacht wurden, wandeln sich allerdings die Anforderungen an Büroräume: Sie werden vom Ort der Arbeit zur Kulturmeile des Unternehmens: Hier werden die Werte des Unternehmens sichtbar, entsteht das Wir-Gefühl der Belegschaft. Hier finden Kollaboration und Co-Creation physisch statt.

Hier können Unternehmen von Start-ups lernen: Start-up-Culture bringt nicht nur neue Strategien der Zusammenarbeit und schafft Innovationen, sie verändert auch das Büro. Es wird zum Ort, an dem Neues entsteht und das Miteinander gelebt wird. Denn wer sich im physischen Raum verbunden fühlt, der kann auch gut im digitalen zusammenarbeiten. Das Büro der Zukunft ist also auch ein Ort, an dem realer und digitaler Raum nahtlos ineinander übergehen und an dem Kollegen und Kolleginnen sich unkompliziert mit Teammitgliedern in Remote Work verbinden können.

Digitalisierung: The New Normal

Die Digital Literacy von Unternehmen ist im Jahre 2020 durch den verstärkten Einsatz von Tools zur Kommunikation, zum Projekt- und Wissensmanagement steil nach oben geschnellt. Das Gefühl der Überforderung angesichts der vielen neuen Werkzeuge wird künftig verschwinden. Auf das anfängliche digitale Improvisieren folgt eine Normalisierung: Gelerntes wird gelebt und nahtlos in den Arbeitsalltag einfügt.

Dabei setzen immer mehr Unternehmen auch auf den Einsatz Künstlicher Intelligenz (KI). Gerade bei eintönigen Tätigkeiten arbeiten Maschinen länger und besser – bei gleichbleibender Qualität. Mit wachsender Rechenleistung steigt der Möglichkeitsraum von KI. Von der Optimierung bei Marketingvorgaben bis zu Sprachassistenten, von der Buchhaltung über den automatisierten Umgang mit standardisierten Vorgängen in der Verwaltung bis hin zu Anwaltsschreiben. KI und die zunehmende Digitalisierung spielen auch neuen Geschäftsmodellen in die Hände, die Produkte nicht mehr verkaufen, sondern verleihen oder als Dienst anbieten: Everything as a Service (auch EaaS oder XaaS genannt). Global Player sind beispielsweise Netflix oder auch Adobe für den B2B-Bereich. XaaS-Angebote konnten sich während der Corona-Krise beweisen und werden sich künftig mithilfe von Künstlicher Intelligenz und Algorithmen weiterentwickeln und ausbreiten.

Durch Automatisierung und KI werden künftig vor allem repetitive und unkreative Jobs ersetzt, die für Menschen ohnehin wenig erfüllend waren. Empathie, Intuition und Kreativität dagegen sind Eigenschaften, die von Maschinen nicht ersetzbar sind – und die für die Zukunft von erfolgreichen Unternehmen essenziell sind.

Zukunftsfähigkeit durch Resilienz statt Effizienz

Erst wenn die permanente Rationalisierung und Optimierung aller Prozesse nicht mehr Priorität hat, entsteht Raum für Weiterentwicklung – für Spielräume, die Unternehmen agiler und resilienter machen. Denn Situationen, die nicht mit Ursache-Wirkungs-Prinzipien erklärt werden können, bringen auch in den bestgeführten Unternehmen die Chefetage ins Wanken. Auf der Suche nach Klarheit werden ausgefeilte Planungs-, Budgetierungs- und Produktionsmodelle ins Leben gerufen und Heerscharen von Mitarbeitenden dafür abgestellt. Prozessbeauftragte, Business Operations Planner, ISO-9000-Champions, Six-Sigma-Blackbelts. Die Namen sind klingend, der Auftrag ist stets gleich: durch Perfektion des bisherigen Vorgehens die Zukunftsfähigkeit abzusichern.

Die Corona-Krise führte jedoch eindrucksvoll vor: Je zielstrebiger man diese Herangehensweise betreibt, desto härter ist der Aufprall in der Realität. Letztlich gelangt die Organisation an einen Punkt, an dem die Komplexität der Welt nicht mehr beherrschbar scheint. Dann braucht es nicht noch mehr Daten, noch ausgefeiltere Reportingstrukturen oder ein noch übersichtlicheres Managementcockpit, sondern: eine zuversichtliche Denk- und Handlungsweise im Umgang mit Unsicherheit und Risiko. Dabei sind Business Ecosystems eine gute Basis, um auf die kommenden „schwarzen Schwäne“ reagieren zu können. Welche diese sind, weiß man nicht – aber das sie kommen werden, ist sicher. Resilienz lässt sich nicht durch ständige Leistungssteigerung erreichen. Zukunftssicherheit hängt auch von scheinbar unnötigem Überfluss ab, von Zwischenlagern, Umwegen, Leerlauf, Redundanzen. Von Vielfalt statt Verschlankung.

4 Zukunftsthesen zum Megatrend New Work

  • Die Sinnfrage wird zentral.
    New Work bietet die Chance, persönliche Potenziale und Neigungen zu entfalten. Denn in Zukunft wird eine Vielzahl anstrengender, monotoner und repetitiver Vorgänge von Maschinen erledigt. Damit rücken urmenschliche Fähigkeiten wie Kreativität und Empathie wieder in den Fokus. Das Lösen von Zukunftsaufgaben bestimmt das Tun und stiftet einen neuen Sinn von Arbeit.

  • Die 30-Stunden-Woche wird das neue Vollzeit.
    Skandinavische Länder leben in Sachen Arbeitszeit schon heute das Arbeitsideal der Zukunft: Weniger ist mehr. Arbeitszeit wird nicht mehr als Wochenkontinuum verstanden, sondern als flexibles Kontingent, das sich individuellen Situationen und Lebensphasen anpassen kann. Die 30-Stunden-Woche als Vollzeit macht mitunter produktiver und lässt Krankenstände schrumpfen.

  • Remote Work macht das Büro attraktiv.
    Während Remote Work von konzentrierten Deep-Work-Phasen geprägt ist, wandelt sich das Büro der Zukunft vom Arbeitsort zum Hub für Co-Creation und Co-Working, für reale zwischenmenschliche Beziehungen und echte Unternehmenskultur. Das Büro der Zukunft ist der Ort, an dem Unternehmenswerte gelebt werden, Wir-Gefühl entsteht und an dem gemeinsam Neues geschaffen wird.

  • Work-Life-Blending ersetzt Work-Life-Balance.
    Die ewige Suche nach der Balance zwischen Arbeit und Freizeit war stets konfliktbehaftet, denn irgendwas kommt immer zu kurz. Work-Life-Blending entzerrt diese Konflikte: Wo die Grenze zwischen Arbeits- und Privatleben verschwindet, können persönliche Bedürfnisse im Tagesverlauf besser berücksichtigt werden. Das schafft nicht nur Entspannung und mehr Lebensqualität, sondern steigert auch die Freude an der Arbeit.

 

Quelle: www.horx.com und www.zukunftsinstitut.de

Link: https://www.horx.com/

Foto: Matthias Horx sowie fotolia

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