Der Industriestrompreis: Herkunft, Ausgestaltung und kritische Würdigung der aktuellen Pläne der Bundesregierung

von Dagmar Dieterle-Witte

1. Einleitung: Vom Kriseninstrument zur industriepolitischen Weichenstellung

Die Debatte um einen staatlich vergünstigten Industriestrompreis in Deutschland hat sich in den vergangenen Jahren von einer bloßen Notfallmaßnahme in der Energiekrise hin zu einem zentralen industriepolitischen Gestaltungsprojekt entwickelt. Ausgangspunkt war die dramatische Preisentwicklung auf den Strommärkten in Folge des russischen Überfalls auf die Ukraine im Februar 2022. Die abrupten Gas- und Strompreissprünge trafen nicht nur Haushalte, sondern mit besonderer Wucht die energieintensive Industrie. Gerade in Sektoren wie Stahl, Aluminium, Glas und Chemie, deren Geschäftsmodelle auf internationalem Wettbewerb und großen Stromverbräuchen beruhen, wurde schnell klar: Ohne staatliche Entlastung droht eine schleichende Deindustrialisierung.

Schon im Bundestagswahlkampf 2021 hatten insbesondere SPD und Grüne die Idee eines „Transformationsstrompreises“ in ihren Programmen verankert. Ziel war, Unternehmen mit besonders hohen Stromverbräuchen einen Brückenpreis anzubieten, der ihnen Zeit und finanzielle Luft verschaffen sollte, um auf klimaneutrale Produktionsprozesse umzustellen. Die FDP stand dem skeptisch gegenüber, einigte sich jedoch im Koalitionsvertrag der ersten Ampelregierung auf ein allgemeines Ziel: den Industriestandort Deutschland im Zuge der Transformation zur Klimaneutralität nicht durch international ungleiche Strompreise zu gefährden.

Mit dem Regierungswechsel im Frühjahr 2025 – infolge vorgezogener Neuwahlen und einer Großen Koalition aus SPD und Union – rückte das Thema nun endgültig ins Zentrum politischer Gestaltung. Der Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung sieht nicht nur eine Stromsteuerabsenkung auf das europäische Mindestmaß vor, sondern geht mit dem sogenannten 50:50-Modell einen neuen Weg, der auf eine gezielte, europa- und haushaltskompatible Industriesubvention zielt. Dieser Aufsatz zeichnet die wesentlichen Linien dieser Entwicklung nach, erläutert die geplante Neuregelung im Detail und würdigt sie unter ökonomischen, energiepolitischen und verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten.

2. Der Industriestrompreis im Konzept der Bundesregierung

Im Kern besteht die geplante Neuregelung aus drei ineinandergreifenden Elementen: der Absenkung der Stromsteuer, der gezielten Reduzierung der Netzentgelte und – als zentrales Innovationsmoment – der Einführung eines subventionierten Brückenstrompreises für ausgewählte energieintensive Unternehmen auf Grundlage des neuen EU-Beihilferahmens. Letzterer ist als „50:50-Modell“ in die politische Debatte eingegangen.

Zunächst sieht die Bundesregierung vor, die Stromsteuer für Industrieunternehmen auf das EU-rechtlich zulässige Minimum abzusenken – konkret auf 0,05 Cent pro Kilowattstunde. Damit wird eine alte Forderung der Industrie aufgegriffen, die sich seit Jahren über die im europäischen Vergleich exorbitant hohe Stromsteuer in Deutschland beklagt. Der Schritt ist zugleich Ausdruck haushaltspolitischer Priorisierung: Eine Absenkung auch für Privathaushalte und Kleingewerbe wurde aus Kostengründen nicht umgesetzt. Damit spart der Bund jährlich etwa fünf Milliarden Euro, was nicht nur sozialpolitisch kontrovers diskutiert wird, sondern auch als Bruch früherer Wahlversprechen der SPD gewertet werden kann.

Zweitens beabsichtigt die Bundesregierung, bestimmte energieintensive Industriezweige durch eine Reform der Netzentgeltstruktur zu entlasten. Hierfür soll ein neuer Anreizmechanismus geschaffen werden, der besonders flexibel steuerbare Lasten begünstigt. Unternehmen, die bereit sind, ihre Produktion stärker an die volatile Einspeisung erneuerbarer Energien anzupassen – also etwa in Zeiten hoher Solar- oder Windstromverfügbarkeit zu produzieren und bei Netzengpässen herunterzufahren –, sollen deutliche Rabatte erhalten. Dieses Modell soll nicht nur Kosten senken, sondern auch netzstabilisierend wirken. In der Praxis allerdings sind nur wenige Produktionsprozesse wirklich flexibel genug, um diese Anforderungen zu erfüllen.

Herzstück der neuen Industriestrompolitik aber ist das sogenannte 50:50-Modell, das auf einer beihilferechtlichen Öffnung der EU-Kommission vom Juni 2025 basiert. Demnach dürfen Mitgliedstaaten ausgewählten Industrieunternehmen für maximal 50 % ihres Jahresstromverbrauchs eine Teilsubvention gewähren. Die Höhe des Zuschusses ist ebenfalls begrenzt: Es dürfen höchstens 50 % des durchschnittlichen Börsenstrompreises bezuschusst werden. Zugleich ist ein Mindestpreis von 50 Euro pro Megawattstunde als Untergrenze festgelegt – ein Signal gegen umfassende Marktverzerrung. Die Beihilfe ist ferner bis Ende 2030 zu befristen und darf nicht dauerhaft gewährt werden.

Die Bundesregierung plant, dieses Modell für besonders stromintensive und global im Wettbewerb stehende Unternehmen zu öffnen – etwa in den Bereichen Aluminium, Chlor, Stahl, Zement oder Grundstoffchemie. Voraussetzung ist, dass die Unternehmen im Gegenzug mindestens 50 % der erhaltenen Subventionen in klimafreundliche Technologien investieren. Förderfähig sind unter anderem Investitionen in Energieeffizienz, Abwärmenutzung, Lastmanagement, Wasserstofftechnologie oder den Aufbau eigener Erneuerbaren-Kapazitäten. Damit verknüpft das Modell die wirtschaftliche Entlastung mit einem klimapolitischen Lenkungseffekt.

Die Umsetzung erfolgt über ein nationales Antragsverfahren, bei dem die Unternehmen ihre Subventionsbedürftigkeit und Transformationsbereitschaft nachweisen müssen. Der Gesamtetat wird derzeit mit rund vier Milliarden Euro jährlich beziffert. Finanziert werden soll er vorrangig über Mittel aus dem Klima- und Transformationsfonds sowie durch Umschichtungen aus bestehenden Programmen.

3. Kritische Bewertung: Effizienz, Legitimität und Steuerbarkeit

Der politische Wille zur Sicherung des Industriestandorts ist nachvollziehbar. Der internationale Vergleich zeigt, dass deutsche Unternehmen – anders als ihre Pendants in den USA, China oder Frankreich – mit besonders hohen Energiekosten konfrontiert sind. Das 50:50-Modell verspricht hier eine gezielte Entlastung ohne systemischen Preisverzerrung. Gleichwohl stellen sich eine Reihe offener Fragen.

Zunächst ist unklar, ob die Auswahlkriterien für die teilnahmeberechtigten Unternehmen hinreichend trennscharf sind. Zwar ist die Orientierung an der Liste stromkostenintensiver Betriebe aus der Besonderen Ausgleichsregelung nach dem EEG sachgerecht. Doch bleibt die Frage, ob durch die notwendige administrative Selektion nicht Mitnahmeeffekte und Wettbewerbsverzerrungen innerhalb der Industrie selbst entstehen. Auch das Erfordernis, mindestens 50 % der erhaltenen Mittel in grüne Technologien zu investieren, wird in der Praxis auf Schwierigkeiten stoßen. Denn Investitionen sind häufig langfristig, nicht jährlich messbar und nicht immer klar einem bestimmten Stromverbrauch zuordenbar.

Ferner ist die soziale Gerechtigkeit des Modells umstritten. Die Entlastung beschränkt sich auf ausgewählte Großverbraucher, während Haushalte, Handwerk und Mittelstand keine vergleichbaren Hilfen erhalten – obwohl auch sie unter hohen Strompreisen leiden. Der Eindruck einer industriepolitischen „Bevorzugung der Großen“ könnte politisch gefährlich werden, insbesondere wenn die Maßnahmen aus allgemeinen Haushaltsmitteln finanziert werden.

Zudem bestehen verfassungsrechtliche und europarechtliche Risiken: Zwar liegt eine beihilferechtliche Genehmigung der EU-Kommission vor, doch bleibt offen, ob ein auf wenige Sektoren beschränktes Modell mit dem Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar ist, insbesondere dann, wenn die Differenzierung nicht durch objektive Unterschiede in Betroffenheit und Transformationsnotwendigkeit getragen ist.

Auch aus Sicht der Steuerbarkeit ist Skepsis angebracht: Das Modell setzt eine administrative Kontrolle von Verbrauchsdaten, Investitionen und Fördervoraussetzungen voraus, die bisher so nicht existiert. Eine Überforderung der Förderstellen ist ebenso möglich wie eine Überregulierung der Unternehmen, was wiederum die Anreizwirkung unterlaufen könnte.

4. Handlungsempfehlungen und Ausblick

Um die Chancen des Industriestrompreises zu nutzen, ohne seine Risiken zu realisieren, bedarf es einer intelligenten Ausgestaltung und ständiger Nachsteuerung. Insbesondere sollten folgende Aspekte berücksichtigt werden:

Erstens ist eine verstärkte Digitalisierung der Antrags- und Nachweisverfahren notwendig. Nur so lassen sich Verbrauchs-, Emissions- und Investitionsdaten effizient erfassen und bewerten. Zweitens sollte die Bundesregierung mittelfristig prüfen, ob eine moderate Ausweitung der Entlastung auch auf kleine und mittlere Unternehmen möglich ist – etwa durch sektorale Sonderregelungen oder gestaffelte Transformationsboni. Drittens bedarf es einer flankierenden Kommunikation, die die industriepolitischen Ziele des Modells besser vermittelt. Nur wenn der Industriestrompreis als Investition in den Standort verstanden wird – und nicht als Subvention für Stromfresser –, wird er auf gesellschaftliche Akzeptanz stoßen.

Nicht zuletzt ist ein stärkerer Fokus auf den Ausbau erneuerbarer Stromerzeugung und Speichertechnologien notwendig. Denn ein Industriestrompreis ohne ausreichenden Grünstrom ist nur eine Zwischenlösung. Langfristig muss das Ziel sein, den Strompreis nicht über Subventionen zu senken, sondern durch strukturelle Marktbedingungen: mehr Angebot, mehr Flexibilität, weniger Abgaben.

5. Fazit

Der Industriestrompreis in der Form des 50:50-Modells stellt einen bedeutenden industriepolitischen Paradigmenwechsel dar. Er ersetzt kurzfristige Krisenreaktionen durch ein planbares, zielgerichtetes Förderinstrument, das Entlastung und Transformation verbindet. Damit wird erstmals versucht, Industriepolitik, Klimapolitik und europäische Wettbewerbsregeln kohärent zu verzahnen. Doch zugleich gilt: Das Modell ist kein Selbstläufer. Es erfordert politische Führung, administrative Exzellenz und gesellschaftliche Einbettung. Nur dann kann es zur tragfähigen Brücke für die Transformation der deutschen Industrie werden.

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Foto: Prof. Dr. Sven-Joachim Otto/Energiesozietät GmbH Rechtsanwälte Steuerberater