Der Ergebnisdruck auf Handel und Stahlunternehmen wächst
von Dagmar Dieterle-Witte

marketSTEEL: Seit dem 6. Mai 2025 hat Deutschland einen neuen Bundeskanzler – mit einem erwartbaren Wandel der politischen Rahmenbedingungen. Wie schätzen Sie bzw. die Stahlhändler die wirtschaftliche und regulatorische Lage aktuell ein, insbesondere im Hinblick auf Energiepreise, Klimavorgaben und internationale Wettbewerbsfähigkeit?
Jörg Simon: Die vorgezogene Neuwahl und die Koalitionsfindung in Deutschland haben die Phase des Stillstands und des Abwartens auf politische Signale verlängert, die die Bauwirtschaft so dringend benötigt. Wir sehen der neuen Bundesregierung mit einem gewissen Maß an Zuversicht entgegen, wenn jetzt auch Taten folgen und im Idealfall mehr Investitionsanreize, beschleunigte Genehmigungsverfahren und Entbürokratisierung folgen – genau das braucht die Bauwirtschaft aktuell dringend. Wir erwarten klare Impulse für die Wohnungsbaupolitik und gezielte Maßnahmen zur Förderung des Wohnungsbaus und zukunftsgerichtete Investitionen in die Infrastruktur. Hier begrüßen wir das milliardenschwere Investitionsprogramm für Schiene, Straße und Energie. Andernfalls wird der konjunkturelle Aufschwung im Bau und somit auch im Stahl gehemmt. NORDWEST geht davon aus, dass die Energiepreise und Materialmärkte zugunsten der internationalen Wettbewerbsfähigkeit stabil gehalten werden müssen und die oftmals mit enormen Investitionen verbundenen Klimavorgaben für die Industrie und den Handel realistisch und verantwortungsvoll gesetzt werden. Zwar sind die Energiepreise im Vergleich zum Vorjahr leicht gesunken, was für die Stahlindustrie eine gewisse Entlastung bedeutet. Allerdings bleibt die regulatorische Lage, insbesondere im Hinblick auf Klimavorgaben, anspruchsvoll. Die neuen Klimaziele erfordern erhebliche Investitionen in umweltfreundliche Technologien, um die Treibhausgasemissionen zu senken. Dies stellt eine Herausforderung dar, aber auch eine Chance, sich im internationalen Wettbewerb durch Innovation und Nachhaltigkeit zu behaupten. Positiv zeichnet sich für uns ab, dass zuletzt die Bauinvestitionen von der spürbaren Zinssenkung profitiert haben.
marketSTEEL: Wie stark beeinflussen politische Vorgaben (z. B. Zollpolitik oder ESG-Anforderungen) Ihre Einkaufsmöglichkeiten?
Jörg Simon: Die aktuellen Rahmenbedingungen sind nicht von Konstanz geprägt und schüren noch mehr Unsicherheit. Das US-Wahlergebnis beeinflusst alle bisherigen, als Leitplanken formulierten Beziehungen und Verhaltensweisen. Donald Trumps erratische Wirtschafts- und Zollpolitik belastet die Planbarkeit weiterer Im- und Exporte und lässt die strukturierte Investitionsbereitschaft, vor allem bei der Industrie, als unmöglich erscheinen. Es besteht die steigende Gefahr einer Abschottung der internationalen Beschaffungsmärkte mit deutlichen Nachteilen für Verbraucher. Die administrativen Aufgabenstellungen und Zollquoten erfordern definitiv einen deutlich höheren Aufwand und vergrößern Risiken. Das alles hat Einfluss auf unsere Einkaufsmöglichkeiten und schränkt die Flexibilität deutlich ein. NORDWEST selbst importiert aber nicht aus den USA, teilweise allerdings aus Asien.
Die ESG-Anforderungen haben uns als Aktiengesellschaft durchaus beschäftigt und wir haben dazu zwei neue Stellen im Bereich des Nachhaltigkeitsmanagement geschaffen. Auch wenn wir als mittelgroße Aktiengesellschaft aktuell nicht mehr unmittelbar unter die ESG-Berichtspflicht fallen, sehen wir es als Teil unserer unternehmerischen Verantwortung, weiterhin freiwillig und transparent über unsere Umwelt-, Sozial- und Governance-Aktivitäten zu berichten – denn nachhaltiges Wirtschaften ist für uns kein regulatorisches Muss, sondern ein strategischer Anspruch. Den ersten ESG-Bericht werden wir somit freiwillig für das Geschäftsjahr 2025 veröffentlichen.
marketSTEEL: Wie schätzen Sie die aktuellen und absehbaren Veränderungen oder Verschiebungen zwischen Werks- und Handelsseite im Stahlmarkt ein?
Jörg Simon: Der Ergebnisdruck auf Handel und Stahlunternehmen wächst, was sich zunehmend in Digitalisierung, Konzentrationsbemühungen, Fusionen bis hin zu Geschäftsaufgaben ausdrückt. Die Nachfrage nach Stahlprodukten ist in Europa weiterhin schwach, was zu einem intensiveren Wettbewerb und Preisdruck führt. Gleichzeitig sehen wir eine zunehmende Bedeutung von Dienstleistungen rund um das Produkt Stahl, wie etwa Anarbeitungskapazitäten und Logistiklösungen. Diese Entwicklungen erfordern teilweise eine Anpassung der Geschäftsmodelle und eine stärkere Fokussierung auf Kundenbedürfnisse. Diese Veränderungen führen zu einer Anpassung der Produktionskapazitäten und beeinflussen die Handelsdynamik im Stahlmarkt. Gleichzeitig spekuliert die Industrie zunehmend über Standortverlagerungen und setzt diese teilweise auch schon um.
marketSTEEL: Wie schätzen Sie aktuell die Liquidität der Stahlhändler ein? Hat sich diese im Vergleich zu den letzten Jahren spürbar verändert – und wenn ja, was waren aus Ihrer Sicht die Hauptgründe für diese Entwicklung?
Jörg Simon: Die Liquidität der Stahlhändler hat sich in den letzten Jahren spürbar verändert. Insgesamt ist unsere Wahrnehmung, dass sich der Mittelstand besser behauptet als einige der Handelskonzerne oder Handelsgruppen. Die aktuellen Marktbedingungen erfordern eine sorgfältige Liquiditätsplanung und -verwaltung, um den Herausforderungen gerecht zu werden und die Geschäftstätigkeit aufrechtzuerhalten. Hauptgründe für diese Entwicklung sind die schwankenden Rohstoffpreise, die geopolitischen Unsicherheiten und die zunehmenden regulatorischen Anforderungen. Die beiden letzten konjunkturbedingten schwierigen Geschäftsjahre konnte die Mehrheit der Händler kompensieren. Weitere Verluste müssen jetzt zunehmend über weitere Bankkredite finanziert werden, was aufgrund der negativen Prognosen und Planungen nicht immer möglich sein wird. Die Wahrscheinlichkeit von Insolvenzen steigt im dritten Krisenjahr in Folge, es gibt bereits erste Geschäftsaufgaben bzw. Übernahmen infolge eintretender Verluste und der schwierigen Ausgangslage. Wobei wir sagen müssen, dass auch viele Händler in den vergangenen sehr erfolgreichen Jahren so solide gewirtschaftet haben, dass sie die Krisenjahre jetzt überstehen können, wenn am Ende des Tunnels endlich wieder ein politisches Licht zu sehen ist.
Fotos: Nordwest