Blechwerkstoffe auf dem virtuellen Prüfstand

von Hubert Hunscheidt

Steigende Anforderungen an Blechumformprozesse erfordern immer umfangreichere experimentelle Charakterisierungen der Ausgangswerkstoffe. Gleichzeitig werden die verwendeten Charakterisierungsversuche durch den Einsatz dünnerer Bleche vor immer neue Herausforderungen gestellt. Das Virtuelle Labor des Fraunhofer-Instituts für Werkstoffmechanik IWM in Freiburg schafft Abhilfe: Es bestimmt die nötigen Kennwerte für die Auslegung des Blechumformprozesses per Simulation. Für die Weiterentwicklung des Virtuellen Labors kooperiert das Fraunhofer IWM mit der Universität Twente in den Niederlanden.

Blechwerkstoffe, etwa für komplexe Autokarosserien, effiziente Plattenwärmetauscher oder handelsübliche Getränkedosen, haben eine Besonderheit: Ihre Werkstoffeigenschaften variieren mit der Richtung, in der die Bleche umgeformt beziehungsweise belastet werden. Für die Industrie ist es enorm wichtig, dieses Werkstoffverhalten genau zu kennen, um den Blechumformprozess auslegen und somit das Bauteil formgenau herstellen zu können. Die dafür notwendige experimentelle Bestimmung der richtungsabhängigen Werkstoffeigenschaften wird zunehmend umfangreicher und nicht jeder Belastungszustand im Fertigungsprozess lässt sich im Experiment realisieren: Beispielsweise ist die Bestimmung dieser Werkstoffeigenschaften bei Druckbelastung kritisch. Zusätzlich werden Blechbauteile immer filigraner und dünnwandiger. Hierdurch lassen sich viele Materialien – etwa Metallfolien, wie sie in der Batterietechnik benötigt werden – schwer experimentell charakterisieren, da sie äußerst schnell Falten bilden oder reißen. Für diese Materialien gibt es folglich nicht ausreichend Versuchsdaten, auf die man zurückgreifen kann.

Das Fraunhofer IWM hat mit seinem Virtuellen Labor eine Möglichkeit geschaffen, diese Lücke zu schließen. »Wir bestimmen die Richtungsabhängigkeit der mechanischen Eigenschaften bei Blechwerkstoffen per Simulation«, erklärt Alexander Wessel, Wissenschaftler am Fraunhofer IWM in der Gruppe Umformprozesse. »Dabei bilden wir die Werkstoffe auf Mikrometerebene in einem Mikrostrukturmodell ab und sagen das makroskopische richtungsabhängige Werkstoffverhalten auf Basis der zugrundeliegenden physikalischen Mechanismen in der Mikroebene voraus.« Auf diese Weise lassen sich auch solche Blechwerkstoffe charakterisieren und die entsprechenden Werkstoffkennwerte für die Auslegung des Umformungsprozesses ermitteln, bei denen dies allein aus dem Experiment nicht möglich ist. »Bei unserem Vorgehen mit dem Virtuellen Labor kommen wir mit wenigen experimentellen Datenpunkten aus und errechnen uns die fehlenden Daten«, erläutert Wessel. Der zeitliche und finanzielle Aufwand ist somit im Vergleich zu einer rein experimentellen Charakterisierung deutlich niedriger. Für Unternehmen bedeutet das, dass sie die Entwicklungszeiten verkürzen und Kosten bei der Einführung neuer Umformprozesse einsparen.

Hand in Hand mit der Universität Twente

Um die Prognosequalität des Virtuellen Labors noch weiter zu erhöhen und den wirtschaftlichen Nutzen für die Industrie auszubauen, gibt es eine neue Kooperation zwischen dem Fraunhofer IWM und der Universität Twente in den Niederlanden: Im Rahmen des »Fraunhofer International Mobility Program«, kurz FIM, arbeitet Alexander Wessel seit Oktober 2022 für fünf Monate an der Universität Twente in der renommierten Forschungsgruppe von Professor Ton van den Boogaard mit, wo ebenfalls an Umformprozessen geforscht wird. Mit dem FIM-Programm unterstützt die Fraunhofer-Gesellschaft finanziell strategische Partnerschaften mit ausländischen Forschungseinrichtungen und stärkt damit den internationalen wissenschaftlichen Austausch.

Das Ziel von Alexander Wessels Aufenthalt in den Niederlanden liegt vor allem im Vergleich der verschiedenen Simulationsansätze und in der Verbesserung der Prognosequalität des Virtuellen Labors. »Die aktuellen Ergebnisse zeigen, dass es zum Beispiel noch Optimierungspotenzial bei der Vorhersage von richtungsabhängigen Werkstoffeigenschaften bei aushärtbaren Aluminiumlegierungen gibt«, sagt Wessel. In Zusammenarbeit mit Assistenzprofessor Semih Perdahcioglu von der Universität Twente konnte bereits ein erster Modellierungsansatz zur Lösung der Problemstellung erarbeitet werden. Diesen gilt es nun weiter zu verbessern und in das Virtuelle Labor zu integrieren. Es wird erwartet, dass hierdurch die Vorhersagegenauigkeit für aushärtbare Aluminiumlegierungen, wie sie beispielsweise für Karosserien im Automobilbau eingesetzt werden, weiter erhöht werden kann.

Quelle und Foto: Fraunhofer-Institut für Werkstoffmechanik IWM

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